Leyla Turgut (1911-1988) – Athletin und Architektin

Auf der Suche nach ganz etwas anderem stieß ich vor einiger Zeit auf eine Meldung aus dem Jahr 1929: „Eine junge Türkin durchschwimmt den Wörthersee“, verkündeten die in Klagenfurt erscheinenden Freien Stimmen. Am 15. August, heißt es in dem dazugehörigen Bericht, durchschwamm „eine augenblicklich in Kärnten weilende 17jährige Türkin“ namens Leyla Turgut1 den größten der Kärntner Seen. Für die 18 Kilometer lange Strecke von Velden nach Klagenfurt brauchte sie neun Stunden, eine Minute und dreißig Sekunden. „In Anbetracht dessen, daß sie keinem Schwimmklub angehört und nie einen Trainer besessen hat, ist die Leistung sehr anerkenneswert“, schließt der Bericht mit leicht herablassendem Tonfall.2

Leyla Turgut nach dem Durchschwimmen des Wörthersees im August 1929
(mit im Bild ihre Mutter, die ihr die Beine massiert)
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

Deutlich enthusiastischer über die Leistung zeigen sich gleichzeitige Berichte in der Wiener Presse, allen voran im Sport-Tagblatt. Dort wird betont, dass es sich um eine Rekordzeit handle, die noch dazu unter widrigen Umständen erreicht wurde: Nicht nur Gegenwind machte der Schwimmerin zu schaffen, sondern auch „der wegen des Maria-Wörther Kirtages verstärkte Dampfer- und Motorbootverkehr.“3 Und obwohl auch das Sport-Tagblatt betont, dass Turgut „vollkommen allein trainierte und keinem Verein angehört“, erscheint sie dort weit weniger amateurhaft als im Bericht des Klagenfurter Blattes. Vielmehr wird sie als „All-round-Sportlerin“ bezeichnet, „die bereits eine Anzahl sehr schöner Leistungen im Langstreckenschwimmen vollbracht hat.“ Das „Mädel“, heißt es schließlich, habe das Zeug in sich, „noch manche Überraschung zu bringen.“4 Vielleicht schwingt in diesen Sätzen auch ein gewisser Lokalpatriotismus mit, denn im Unterschied zur eingangs zitierten Meldung wird Turgut in den Wiener Blättern nicht als Türkin bezeichnet, sondern als Wienerin.

Durch diese und ähnliche Zeitungsnotizen neugierig geworden, begann ich nachzuforschen, ob ich nicht mehr über diese Wiener Türkin oder türkische Wienerin herausfinden konnte – und stieß auf eine Biographie, die tatsächlich „manche Überraschung“ birgt …

Leyla Turgut wurde am 22. Dezember 1911 in Istanbul geboren. Ihr Vater war Mustafa Assim Turgut Bey, ein hochrangiger türkischer Politiker und Diplomat. Während er das Amt des osmanischen Botschaftsrates in Wien innehatte, lernte er Letta Mraček kennen, mit der er sich 1908 vermählte. Diese stammte aus einer angesehenen Wiener Familie: Sie war die Tochter des k. k. Hofrats, Professors und Primars im Rudolfspital Dr. Franz Mraček und dessen Frau Sophie, geborene Edle v. Kogerer.5

Letta Assim Turgut, geb. Mraček, 1912
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

Aufgrund der diplomatischen Karriere von Assim Turgut Bey wechselte die Familie in den ersten Jahren nach der Heirat häufig den Wohnsitz. Zunächst ging es nach Stockholm, wo 1909 der Sohn Demir zur Welt kam, dann weiter nach Sofia und schließlich nach Istanbul, da Assim Turgut Bey 1911, kurz vor Leylas Geburt, zum türkischen Außenminister berufen wurde. Schon 1914 stand aber der nächste Umzug an, diesmal nach Teheran. Als zwei Jahre später russische Truppen Persien besetzten, war die Familie gezwungen, das Land zu verlassen, und flüchtete unter turbulenten Umständen nach Wien.6

Die Familie blieb nun für rund fünfzehn Jahre in Wien, wo sie eine prachtvoll eingerichtete Wohnung in einem Palais am Franzensring (heute Universitätsring 12) bewohnte.7 Die Kinder erhielten eine ihrem Stand entsprechende Erziehung. Wie schon ihr Bruder besuchte Leyla Turgut das traditionsreiche Wiener Schottengymnasium, wo sie 1929 die Reifeprüfung ablegte. Im Jahresbericht der Schule ist neben den Namen der Maturant*innen jeweils auch der „gewählte Beruf“ angegeben. Bei Leyla Turgut lautet der betreffende Eintrag: „Technik“.8 Tatsächlich scheint sie mit dem akademischen Jahr 1929/30 als Studentin an der Technischen Hochschule in Wien auf.9

Demir Turgut (links) bei einer Segelregatta auf der Alten Donau in Wien, 1930
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

Im Juli 1931 brachte das Neue Wiener Journal unter dem Titel Nachmittag im Orient einen Beitrag über Letta Assim Turgut, der halb Interview, halb Porträt ist und kurz auch auf ihre Kinder zu sprechen kommt. Als Erstes wird der Sohn, Demir, vorgestellt: „Ein junger Mann, braungebrannt, feingeschnittene Züge unter blauschwarzem Haar“, Staatswissenschaftler und leidenschaftlicher Segler. Auch Leyla, „gleich dem Bruder nachtdunkles Haar, eine Schülerin Professor Holzmeisters und Studentin an der Technik“, heißt es dann weiter, „repräsentiert die Sportlady par excellence.“10

Die kurze Beschreibung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil sie mit Clemens Holzmeister einen der bedeutendsten österreichischen Architekten der Zeit als Leyla Turguts Lehrer identifiziert. Gerade das wirft allerdings Fragen auf, denn Holzmeister unterrichtete nicht an der Technischen Hochschule, sondern an der Akademie der bildenden Künste. Sollte Turgut an beiden Institutionen studiert haben? Hier wären noch weitere Nachforschungen nötig, um die Aussage im Neuen Wiener Journal zu verifizieren oder zu widerlegen.

Bemerkenswert ist aber auch die Charakterisierung Turguts als „Sportlady par excellence“. Denn sie war eben wirklich nicht nur Schwimmerin, sondern widmete offenbar einen großen Teil ihrer Zeit dem Sport – in seinen unterschiedlichsten Spielarten. Als sie etwa im August 1929 den Wörthersee durchschwamm, soll sie bei ihrer Landung in Klagenfurt noch so frisch gewesen sein, „daß sie gleich zum Pörtschacher Tennisturnier gehen konnte.“11 Auch im Frühjahr 1931 wird sie als Teilnehmerin eines Tennisturniers genannt.12 Ein knappes Jahr später, im Februar 1932, hingegen zeigt ein Foto sie beim Eissegeln auf dem Neusiedler See:

Leyla Turgut beim Eissegeln auf dem Neusiedler See, Februar 1932
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

Überhaupt das Eis … Wie es sich für eine Tochter aus gutem Hause gehörte, war Leyla Turgut natürlich auch Mitglied im Wiener Eislaufverein. Dort gründete sie mit einigen Vereinskolleginnen im Winter 1929/30 das erste Damen-Eishockeyteam Österreichs – was für Töchter aus gutem Hause nun weit weniger ziemlich war, denn das kampfbetonte Eishockey galt eindeutig als Männersport. Als der internationale Eishockeyverband 1930 über die Einrichtung von Frauenbewerben diskutierte, wurde die Entscheidung vertagt, weil man erst medizinische Gutachten einholen wollte, ob der Sport denn für Frauen überhaupt geeignet sei!13 Von derlei Überlegungen offenbar unbeeindruckt, forcierte Turgut gemeinsam mit Hilde Walter die Etablierung des Wiener Damenteams und wurde auch dessen erste Kapitänin.14 Das einzige Problem: Es gab keine gegnerischen Mannschaften, gegen die man antreten konnte, sodass man sich auf interne Trainingsspiele beschränken musste.15

Das erste Wiener Damen-Eishockeyteam, 1930
(Leyla Turgut ist die Dritte von rechts in der hinteren Reihe)
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

In dem schon erwähnten Interview von 1931 kündigte Leyla Turguts Mutter am Ende an: „Ich habe die Heimat meines Mannes fast so liebgewonnen wie die meine und ich glaube, daß wir uns, nachdem mein Sohn seinen Doktor gemacht hat, jetzt dazu entschließen werden, nach Konstantinopel zu übersiedeln. An den träumerischen Bosporus, in die Stadt der hundert weißen Minaretts!“16 Tatsächlich gab die Familie bald darauf ihr Wiener Domizil auf und kehrte nach Istanbul zurück. – Auf den Studienabschluss der Tochter wurde offenbar nicht gewartet.

In Istanbul nahm Leyla Turgut sowohl ihre Karriere als Sportlerin als auch ihr Architekturstudium wieder auf. Gemeinsam mit ihrem Bruder half sie dabei, in der Türkei den modernen Leistungssport nach ‚westlichem‘ Vorbild zu etablieren. Als Schwimmerin war sie dort in der ersten Zeit noch weitgehend konkurrenzlos und dominierte die örtlichen Wettkämpfe.17 1934 vertraten sie und Cavidan Erbelger als erste Schwimmerinnen die Türkei bei internationalen Bewerben in Russland.18 Auch dem Eishockey blieb sie, zumindest passiv, weiter verbunden: 1938 wird sie als Journalistin bei der Herren-Weltmeisterschaft in Prag erwähnt.19

Falls Turgut tatsächlich als Journalistin arbeitete, war dies aber wohl nur vorübergehend. Denn auch nach der Rückkehr nach Istanbul verfolgte sie den in Wien eingeschlagenen Karriereweg im Bereich der Architektur. An der Istanbuler Kunstakademie inskribierte sie zunächst in der Abteilung für Dekorative Kunst, wechselte jedoch bald in die Architekturabteilung. Dort begann sie, nach ihrem Abschluss im Jahr 1939, als Assistentin von Robert Vorhoelzer auch selbst eine akademische Laufbahn. Sie war damit die erste Frau, die eine Anstellung in der Architekturabteilung der Hochschule erlangte. Nach wenigen Jahren gab sie diese jedoch auf und machte sich mit einem Architekturbüro selbständig.20

Bereits 1946 fand Turgut mit Wettbewerbsentwürfen, unter anderem für ein Freilufttheater in Istanbul sowie ein Kino- und Hotel-Projekt in Ankara, Beachtung. Neben ihrer selbständigen Planungstätigkeit war sie auch als Mitarbeiterin von Henri Prost am Stadtentwicklungsplan für Istanbul beteiligt. Ihr heute bekanntestes Werk ist die aus mehreren Wohnblöcken bestehende Siedlungsanlage für Mitarbeiter der Istanbuler Straßenbahn- und Tünel-Gesellschaft IETT, die 1957–1962 im Stadtteil Okmeydanı errichtet wurde.21

Zu Beginn der 1960er-Jahre war Turgut offenbar auch in die Planung einer Ausstellung zum Werk ihres (möglichen) Wiener Lehrers Clemens Holzmeisters involviert, die im Frühjahr 1962 an der Technischen Hochschule in Istanbul stattfand. Zur Ausstellungseröffnung reiste Holzmeister selbst an und vermerkte in seinem Tagebuch mehrere Treffen mit Turgut, die auf ein gewisses Naheverhältnis zwischen beiden hindeuten.22 Unklar bleibt allerdings, ob dieses auf Turguts Wiener Zeit zurückging oder erst auf Holzmeister Aufenthalt in Istanbul in den Jahren 1938 bis 1949.23

Leyla Turgut starb 1988. In der Türkei ist sie als eine der ersten Architektinnen des Landes in Erinnerung geblieben – oder wird als solche zumindest seit einigen Jahren wiederentdeckt. In Österreich hingegen ist sie heute vergessen, aber vielleicht kann ja dieser Blog-Post beitragen, das zu ändern …


1. Im zitierten Bericht wird der Name der Schwimmerin als Leyla Assim Tourgoud wiedergegeben. Diese Schreibweise wird auch in den meisten anderen österreichischen Medien der Zeit verwendet. In der neueren türkischen und internationalen Fachliteratur ist hingegen die Variante Leyla Turgut gebräuchlich, die zumindest ab 1946 auch von ihr selbst verwendet wurde. Ich habe mich im vorliegenden Beitrag daher für Letztere entschieden.

2. Eine junge Türkin durchschwimmt den Wörthersee, in: Freie Stimmen, 18. Aug. 1929, S. 8. [ANNO-Link]

3. Assin Tourgoud schwimmt Rekord, in: Sport-Tagblatt, 19. Aug. 1929, S. 5-6. [ANNO-Link]

4. Eine Wienerin will den Wörther See durchschwimmen, in: Sport-Tagblatt, 17. Aug. 1929, S. 8. [ANNO-Link]

5. Das Geburtsdatum und die Details zur Familie entnehme ich einer Notiz im Wiener Salonblatt vom 23. März 1912, S. 9. [ANNO-Link]

6. Vgl. zu alledem: Rose Poor Lima, Nachmittag im Orient. Gespräch mit der Gattin des türkischen Ministers Assim Tourgoud Bei, in: Neues Wiener Journal, 16. Juli 1931, S. 8. [ANNO-Link]

7. Details zur Wohnung bringt ein Bericht vom Juli 1919 über einen Einbruch, der während der Abwesenheit der Familie stattgefunden hatte. [ANNO-Link] Die Liste der entwendeten Gegenstände bietet einen interessanten Einblick in die Wohnkultur der Wiener Oberschicht jener Zeit.

8. Jahresbericht des Schottengymnasiums in Wien, Schuljahr 1929/30, S, 46. [ANNO-Link]

9. Juliane Mikoletzky, Ute Georgeacopol-Winischhofer u. Margit Pohl, „Dem Zuge der Zeit entsprechend  …“ Zur Geschichte des Frauenstudiums am Beispiel der Technischen Universität Wien, Wien 1997, S. 327.

10. Rose Poor Lima, Nachmittag im Orient (wie Anm. 6). [ANNO-Link].

11. Assin Tourgoud schwimmt Rekord (wie Anm. 3), S. 6. [ANNO-Link].

12. Neue Freie Presse, 6. Mai 1931, S. 10. [ANNO-Link]

13. Vom Internationalen Eishockey-Kongreß, in: Sport-Tagblatt, 30. Jänner 1930, S. 6. [ANNO-Link]

14. Wohin rollst du, Eishockeybällchen. Ein neuer Damensport ist geboren …, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jänner 1930, S. 12. [ANNO-Link]

15. Eishockey. Die Damen spielen wieder, in: Sport-Tagblatt, 20. Nov. 1930, S. 4. [ANNO-Link]

16. Rose Poor Lima, Nachmittag im Orient (wie Anm. 6). [ANNO-Link].

17. Edi Polz, Ein türkisches Schwimmfest, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 4. Aug. 1934, S. 12-13. [ANNO-Link]; Ders., Sport im Orient, in: Sport-Tagblatt, 8. Aug. 1934, S. 7. [ANNO-Link]; Sportliches Neuland, in: Neues Wiener Journal, 29. Sept. 1934, S. 12. [ANNO-Link]

18. Eintrag Leyla Turgut auf archnet.org. Ebenda wird behauptet, Turgut habe auch 1936 an den Olympischen Sommerspielen in Berlin teilgenommen. Die online verfügbaren Teilnehmer*innenlisten der Spiele nennen jedoch nur ihren Bruder als Segler. Ein türkisches Damen-Schwimmteam scheint hingegen nicht vertreten gewesen zu sein.

19. Pilsner Tagblatt, 20. Feb. 1938, S. 7. [ANNO-Link]

20. Eintrag Leyla Turgut auf archnet.org.

21. Eintrag Leyla Turgut auf archnet.org.

22. Clemens Holzmeister: Architekt in der Zeitenwende, Band 1: Selbstbiographie, Werkverzeichnis, Salzburg 1976, S. 209-210.

23. Holzmeister hatte schon in den 1930er-Jahren zahlreiche Bauten für das Regierungsviertel der neuen türkischen Hauptstadt Ankara geplant. 1938 von den Nazis zwangspensioniert, hatte er schließlich das schon nicht mehr existente Österreich verlassen und war in die Türkei emigriert, wo er von 1939 bis 1949 an der Technischen Hochschule in Istanbul lehrte und mit dem Entwurf des Parlamentsgebäudes seine Tätigkeit für Ankara fortsetzte.

Die alte Hietzinger Friedhofskapelle

Wer sich für die neugotische Architektur des 19. Jahrhunderts interessiert, wird in Wien nicht zuletzt auf den diversen Friedhöfen fündig. Hatte ich letztes Mal schon über das Rinnböck-Mausoleum in Simmering berichtet, so geht es diesmal ans andere Ende der Stadt nach Hietzing, quasi vom Arbeitervorort ins Nobelviertel. Aufgrund der Nähe zum kaiserlichen Schloss Schönbrunn wurde Hietzing im 19. Jahrhundert mehr und mehr zum beliebten Wohnort für die Wiener Upper Class. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden in dem einst ländlichen Ort zahlreiche Villen – und auf dem örtlichen Friedhof die dazugehörigen Mausoleen. Eines der auffälligsten darunter ist die Familiengruft der Odescalchi, bei der es sich jedoch eigentlich um die alte Friedhofskapelle handelt. Im älteren Teil des Friedhofs gelegen, wurde sie 1857 im Stil der Neugotik errichtet.

Neugotische Formen waren im 19. Jahrhundert bei Sakralbauten beliebt, weil das Mittelalter als Ideal einer christlichen Epoche galt. In Wien bzw. in Österreich setzte sich der Stil dennoch vergleichsweise langsam und später als zum Beispiel in München oder Berlin durch. Gerade Mitte der 1850er-Jahre ging es aber mit den Planungen für die Wiener Votivkirche und den Neuen Dom in Linz auch hierzulande so richtig mit der Neugotik los. Während dort mit Heinrich Ferstel respektive Vincenz Statz Architekten der jungen Generation zum Zug kamen, wurde der Entwurf der Hietzinger Friedhofskapelle jedoch einem Veteranen anvertraut: dem k. k. Architekt und Hofbau-Ingenieur Johann Rupp (1791–1872). Während Votivkirche und Linzer Dom bereits den Übergang zum historisch korrekten, strengen Historismus markieren, gestaltete Rupp die Kapelle noch ganz im Sinne des älteren romantischen Historismus, der mehr an einem phantastisch-märchenhaften Erscheinungsbild interessiert war als an einer originalgetreuen Wiedergabe vergangener Baustile. So wirkt die Friedhofskapelle für ihre Zeit bereits ein klein wenig altmodisch.

Der Bau weist eine denkbar einfache Grundstruktur auf: Er erhebt sich auf rechteckigem Grundriss und wird von einem Giebeldach bedeckt. Die Ecken allerdings sind durch wuchtige, mit gotischen Fialen bekrönte Pfeiler betont, die Giebel im Stil der Tudorgotik abgetreppt. An der Stirnseite erhebt sich über dem Giebel ein zierliches Türmchen, das oben von einer Maßwerkbrüstung und einer polygonalen, krabbenbesetzten Spitze abgeschlossen wird.

Die massiven Quaderwände des Baus werden an den Längsseiten nur durch je ein zweibahniges Maßwerkfenster aufgelockert, an der Rückseite hingegen durch eine Fensterrose. An der Frontseite schließlich bildet ein gotisches Wimpergportal den einzigen Eingang zum Kapellenraum.

Im Wimperg prangen die Familienwappen der Esterházy und der Batthyány, denn die Friedhofskapelle entstand im Auftrag der Gräfin Jeanette Esterházy, eigentlich Johanna von Esterházy de Galántha, geb. Gräfin Batthyány (1798–1880). Im Wiener Kulturleben ihrer Zeit war sie eine prominente Figur, tat sich vor allem als Förderin von Musikern und Komponisten hervor, brillierte aber auch selbst als Virtuosin auf der Harfe. Ihren Unterricht auf dem Instrument erhielt sie durch keinen Geringeren als Elias Parish Alvars (1808–1849), den sie zugleich als Mäzenin unterstützte. Nach dessen Tod förderte sie vor allem den Komponisten und Harfenisten Johann Dubez (1828–1891). Auch zu Franz Liszt und Fréderic Chopin unterhielt sie zeitweise enge Kontakte, und Letzterer widmete ihr 1842 sein Impromptu Nr. 3 Ges-Dur op. 51.

Nachdem Jeanette Esterházy 1852 eine Villa in Hietzing bezogen hatte, wurde sie auch zu einer wichtigen Patronin der dortigen Pfarrkirche, die als Wallfahrtsziel am Rande von Wien eine gewisse lokale Bedeutung hatte. Unter anderem stiftete die Gräfin ein goldbesticktes Antependium aus rotem Samt für den Altar und einen Baldachin für das Fronleichnamsfest aus demselben Material.

Ihre nachhaltigste und monumentalste Stiftung war jedoch die Kapelle im Hietzinger Friedhof. Diese war freilich nicht ganz uneigennützig: Obwohl das Bauwerk als öffentliche Friedhofskapelle für Einsegnungen benutzt wurde, war es gleichzeitig als Grablege für die Stifterin und ihren Mann, Alois Esterházy de Galántha (1780–1868), konzipiert. Nachdem 1912–1913 eine neue Kapelle für den mittlerweile mehrfach erweiterten Friedhof errichtet worden war, übernahm der Bau von 1857 endgültig die Rolle einer Familiengruft. Da Jeanette und Alois Esterházy keine direkten Nachkommen hatten, ging die Kapelle an die mit den Esterházy verschwägerte Familie Odescalchi über. Seither wird das Gebäude daher meist als Odescalchi-Mausoleum bezeichnet – was allerdings seinen Ursprung unkenntlich macht und die Erinnerung an seine Stifterin verschleiert.