Die Reklamewand am Wiener Graben

Mehr als zehn Jahre lang bin ich nun auf Twitter aktiv gewesen, aber seit die Plattform letzten Oktober von einem, vorsichtig formuliert, menschenrechtsfeindlichen Milliardär mit Hang zum Größenwahn aufgekauft wurde, war mir im Grunde klar, dass ich sie über kurz oder lang verlassen würde. Am Ende hat es nun doch ein dreiviertel Jahr gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte, denn es ist mir nicht leicht gefallen, die Gemeinschaft aufzugeben, die ich auf Twitter gefunden hatte. Die jüngsten Änderungen und die noch viel umfangreicheren Änderungspläne haben mir jetzt aber endgültig den Anstoß gegeben, den Hut drauf zu werfen und Twitter schweren Herzens den Rücken zu kehren. Als Folge davon will ich versuchen, den lange Zeit stillliegenden Blog wieder verstärkt zu bespielen. Fürs Erste will ich das mit einigen kurzen Beiträgen tun, die ich im Lauf der letzten Jahre als Twitter-Threads gepostet hatte und für die ich, da ich meinen Twitter-Account ganz deaktivieren werde, nun ein neues Zuhause brauche. Den Anfang macht die Geschichte der Reklamewand am Wiener Graben:

Die Reclamen-Wand am Wiener Graben, 1877
[Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek]

Im Herbst 1877 brachte das ‚Illustrierte Familienblatt‘ Die Heimat die obige Illustration von Johann Josef Kirchner, die laut Bildunterschrift „Die Reclamen-Wand am Wiener Graben“ (an der Ecke zur Spiegelgasse) zeigt.1

Ein beigefügter Erläuterungstext von Anton Langer führt aus, dass es sich bei dem eine ganze Hauswand einnehmenden Mosaik von Werbeanzeigen nicht um Plakate handelte, sondern um direkt auf den Verputz gemalte Annoncen: „Tollkühne Anstreicher und Schriftenmaler“, heißt es, „erstiegen auf haarsträubenden Leitern und Gerüsten die Mauer bis zum Dachgiebel und begannen ihr im strengsten Sinne anziehendes Werk, moderne Kiszelaks, die jedes Fleckchen benützen, um nicht den eigenen Namen, sondern den eines Wiener Geschäftsmannes hinzumalen, der mit seinen Specialitäten alle Concurrenten aus dem Felde zu schlagen sich vermaß. Die sämmtlichen Farben des Spectrums wurden gewählt, um als Unterlage für die mannshohen Buchstaben zu dienen, die schwarz und weiß weithin den Fortschritt der Wiener Industrie verkünden.“2

Interessant ist der Hinweis auf die Buntfarbigkeit der Reklamewand, die in der Schwarzweiß-Zeichnung natürlich nicht adäquat reproduziert werden konnte. Auch den Inhalt der verschiedenen Annoncen gibt die Illustration nur unvollständig wieder, obwohl einzelne Produktbezeichnungen, Firmennamen und sogar Adressen durchaus zu erkennen sind. Zusätzliche Informationen enthält auch in diesem Punkt Langers Text, der in humorvoller, fast satirischer Art einzelne Werbetreibende auflistet:

„Da sind sie alle, angefangen vom Inhaber des 27 kr.-Geschäftes bis zum Juwelier, der nach Tausenden verkauft, und die Zahnheilkünstler, welche mit Lustgas so schmerzlos und angenehm den Zahn beseitigen, daß der Mensch bis ans Ende seines Lebens nur mehr einen einzigen Genuß kennt, nämlich sich alle Tage ein paar Zähne reißen zu lassen, die Confectionäre, welche die Pariser und Lyoner Nouveautés aus Gumpendorf anpreisen, die En gros-Lederwaren-Fabrikanten, die unten auf dem Graben sich feindlich gegenüber stehen, wie Welfen und Ghibellinen, Bianchi und Neri, Katholiken und Hugenotten, während sie hier oben in schwindelnder Höhe friedlich neben einander hausen, die Broncearbeiter mit ihren wundervollen Arbeiten, welche der Wiener gewiß kaufen würde, wenn sie etwas theurer, aber aus Paris wären, die Nähmaschinen-Erzeuger, die jeder armen Arbeiterin ein so vortreffliches Fabrikat anrühmen, daß sie in ein paar Jahren ein Ringstraßenhaus damit erwerben kann, Benedicters Restauration in der Alservorstadt, ‚zum Riedhofe‘, jene Musterwirthschaft, welche täglich die Haute voleé militaire aus den benachbarten Kasernen, die Autoritäten der medicinischen Welt und das reiche Bürgertum der nordwestlichen Vorstädte zu einem Ensemble vereinigt, das beim Essen und Trinken nichts zu wünschen übrig läßt, Loius Modern: Herrn- und Damenwäsche, Filz: Parfumerie, Orpheum und Möbelniederlagen, Grabkreuze von Pobisch, Zeitungen wie ‚Aktie‘ und ‚Mercur‘, Crethi und Plethi, tutti quanti.“3

Charles Marville, Die Rue Tirechape in Paris, ca. 1853–1870
State Library of Victoria, Australien

[Bildquelle: Wikimedia Commons]

Wie dieses vermutlich von Charles Marville angefertigte Foto zeigt, war es in anderen Städten, allen voran in Paris, im 19. Jahrhundert nicht unüblich, freistehende Brandmauern mit Werbeanzeigen zu überziehen; in Wien stellte die Reklamewand am Graben aber eine Ausnahme, ja geradezu ein Kuriosum dar. Sie war auch nur rein zufällig, als ein ungeplantes Nebenprodukt der ‚Regulierung‘ des Grabens entstanden.

Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein wies der Graben, eine der wichtigsten Straßen im Herzen von Wien, eine unregelmäßige Verbauung auf, die sich im Laufe der Frühen Neuzeit nach und nach organisch entwickelt hatte. Ab den 1830er-Jahren aber ging man daran, dem breitangelegten Straßenzug ein einheitlicheres Erscheinungsbild zu verpassen, teils um den Verkehrsfluss zu vereinfachen, teils um dem Graben den Charakter eines repräsentativen Platzes zu geben. Die bestehenden Häuser wurden allesamt abgetragen und durch moderne Neubauten mit annähernd gleicher Höhe und einheitlicher Fassadenlinie ersetzt. Dieser Vorgang zog sich allerdings über mehrere Jahrzehnte und erfuhr immer wieder kürzere oder längere Unterbrechungen. Einer dieser Unterbrechungen verdankt sich die Entstehung der Reklamewand: Um 1873 begann man, die Häuser an der Einmündung der Spiegelgasse zu demolieren, um Platz für einen monumentalen Neubau zu schaffen, doch schon nach dem Abbruch des kleinen Eckhauses kam das Projekt ins Stocken. So blieb die Brandmauer des Nachbarhauses mehrere Jahre lang frei sichtbar und wurde in der Folge eben als großformatige ‚Annoncentafel‘ in bester Lage genutzt.

Erst 1886 wurde das betreffende Haus schließlich doch noch durch einen Neubau ersetzt, nämlich das Wohn- und Geschäftshaus „New York“ nach Plänen von Carl Schumann. (Im authentisch erhaltenen Geschäftslokal des Erdgeschosses befindet sich heute eine H&M-Filiale.) Das Haus an der anderen Seite der Spiegelgasse (rechts in der Zeichnung) musste hingegen 1894 dem „Ankerhaus“ weichen, einem der ersten Hauptwerke Otto Wagners, das v. a. für seinen verglasten Dachaufbau bekannt ist.

Trotz dieser teils bedeutenden Neubauten ist die ‚Regulierung‘ des Grabens im 19. Jahrhundert ein problematisches Kapitel der Wiener Architekturgeschichte, denn der Modernisierungswelle fielen nicht minder bedeutende Bauten der Frühen Neuzeit zum Opfer. Für den „Grabenhof“ (Otto Thienemann & Otto Wagner, 1873-1876) etwa wurde das Palais Selb zerstört – und damit Wiens vermutlich schönster Renaissance-Arkadenhof. Im Vergleich dazu ist die Reklamewand natürlich ein unbedeutender Verlust, aber zumindest eine kurze Zeit lang zählte auch sie, wenn nicht zu den Sehenswürdigkeiten, so doch zu den Kuriositäten von Wien.


1. Die „Reclamen-Wand“, in: Die Heimat. Illustrirtes Familienblatt, Nr. 52, 1877, S. 857 (Illustration) u. 859–860 (Text).

2. Ebd., S. 859.

3. Ebd., S. 859.

Die Rinnböck-Kapelle und die Rinnböck-Häuser in Simmering

Wie am Ende des vorigen Beitrags angekündigt, geht es heute noch einmal auf den Simmeringer Friedhof im Südosten Wiens. Allerdings nicht wie letztes Mal auf den alten, rund um die Kirche gelegenen Teil, sondern in den neuen, der seine Entstehung den Erweiterungen des 19. Jahrhunderts verdankt. Direkt am Fuß des Kirchhügels steht dort das wohl prominenteste Monument dieses Friedhofs, die sogenannte Rinnböck-Kapelle.1 Der kleine neugotische Bau wurde 1869 von Josef Rinnböck (1816–1880) als Grablege für sich und seine Familie errichtet.

Die Rinnböck-Kapelle am Simmeringer Friedhof [Dezember 2011]

Der Unternehmer und Lokalpolitiker Rinnböck, nach dem in Simmering sogar eine Straße benannt ist, zeichnete sich nicht zuletzt durch sein soziales Engagement aus. Zu seinen Verdiensten zählt unter anderem die Errichtung günstiger Arbeiterwohnungen, der nach ihm benannten Rinnböck-Häuser, an der Simmeringer Hauptstraße (Nr. 1-3). Zwischen 1861 und 1865 als Arbeitergroßwohnhof erbaut, reagierten diese auf das starke Bevölkerungswachstum in Wien und seinen Vororten und auf die daraus resultierende Wohnungsnot vor allem für die Arbeiterschicht. Obwohl sie sich somit einer privaten Initiative verdanken, markieren die Rinnböck-Häuser gewissermaßen den Beginn des modernen sozialen Wohnbaus in Wien, für dessen kommunal geförderte Variante die Stadt bald darauf berühmt werden sollte. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung stellten sie die größte Wohnanlage im Gebiet des heutigen Wien nach dem Freihaus auf der Wieden dar. Damals freilich lagen sie noch nicht in Wien, denn Simmering war noch ein selbständiger Vorort außerhalb der Stadt und sollte erst 1892 eingemeindet werden. Gerade der Bau der Rinnböck-Häuser stellte in gewisser Weise einen wichtigen Schritt im rasch voranschreitenden Prozess der Verstädterung und Industrialisierung Simmerings dar, der den ländlichen Charakter des Orts innerhalb weniger Jahrzehnte gänzlich verschwinden ließ.

Rinnböck-Haus an der Simmeringer Hauptstraße [September 2014]

Trotz seiner nicht zu leugnenden stadtgeschichtlichen Bedeutung ist von dem ehemaligen Großwohnhof heute allerdings nicht mehr allzu viel übrig. Nur eines der Rinnböck-Häuser – das auf Nr. 3 – ist noch erhalten, und rein architektonisch und ästhetisch macht auch dieses zugegebenerweise nicht viel her. Obwohl es von der Bauzeit her bereits in die Epoche des Historismus fällt, erinnert es in seiner Kargheit noch mehr an die schlichten Wohnbauten des Biedermeier. Dennoch ist das Gebäude auch architekturgeschichtlich durchaus interessant, zwar nicht aufgrund seiner äußeren Erscheinung, aber durch das, was sich im Inneren verbirgt. Seines Zeichens Deichgräbermeister, war Josef Rinnböck nämlich maßgeblich am Abbruch der Wiener Stadtmauern beteiligt: Zwischen 1859 und 1866 war seine Firma für Demolierungsarbeiten an Gonzagabastei, Burgbastei, Augustinerbastei sowie weiteren Wällen und Toren der Stadt verantwortlich, um Platz für die neu projektierte Ringstraße zu schaffen. Das dabei anfallende Abbruchmaterial verwendete der praktisch denkende Unternehmer dann gleich als billiges Baumaterial für die nach ihm benannten Wohnhäuser in Simmering.

Rinnböck-Kapelle, Ansicht von vorne [Januar 2013]

Während es sich bei den Arbeiterhäusern um reine Zweckbauten ohne künstlerischen Anspruch handelt, ist die wenige Jahre später entstandene Gruftkapelle am Friedhof ein repräsentatives ‚Schmuckstück‘, in dem die gesellschaftliche Stellung (und der Reichtum) des Auftraggebers deutlich zum Ausdruck kommt.

Rinnböck-Kapelle, seitliche Ansicht [Januar 2013]

Der zierliche Bau wurde in neugotischen Formen mit großem Aufwand an architektonischem und skulpturalem Dekor gestaltet. Er erhebt sich auf achteckigem Grundriss, wobei allerdings die (vom Eingang gesehen) seitlichen Wände etwas länger sind als die übrigen. Jede der acht Seiten wird von einem hohen Wimperg bekrönt. Die Wimperge sind von Maßwerkrosetten durchbrochen und mit Krabben besetzt. In den Ecken dazwischen ragen schlanke Fialen auf, an deren Fuß jeweils löwenartige Tiere angebracht sind. Diese imitieren die phantastischen Wasserspeier gotischer Kathedralen, ohne allerdings tatsächlich diese Funktion einzunehmen. Sie bilden hier ein reines Zierelement. Die fast wie eine Krone um den Bau gelegte Reihe von Wimpergen findet ihre Fortsetzung und ihren Abschluss im hochaufragenden Dach, das von einem schlanken Türmchen bekrönt wird.

Rinnböck-Kapelle, Detail der Seitenansicht [Januar 2013]

Den Höhepunkt des skulpturalen Dekors bildet jedoch das Portal an der Stirnseite. In seinem Tympanon erscheint ein Engel mit einem Schriftband, darauf die Worte: Ruhestätte der Familie Rinnböck.

Portal der Rinnböck-Kapelle [Dezember 2011]

Als geradezu perfekte neugotische Kleinarchitektur kommt dem Rinnböck-Mausoleum innerhalb der Wiener Friedhofsarchitektur eine herausragende Stellung zu. Dennoch stand es bis vor wenigen Jahren eher schlecht um seine Erhaltung: Von Pflanzen überwuchert, mit großflächig abbröckelndem Verputz, präsentierte es sich in einem verfallenden Zustand, der zwar durchaus etwas Romantisches hatte, aber wenig Gutes für die Zukunft des Bauwerks erwarten ließ.

Die Rinnböck-Kapelle im Sommer 2007
[Bild: Invisigoth67/Wikimedia Commons, Lizenz CC BY-SA 3.0]

Den Bemühungen der Simmeringer Friedhofsgärtnerin Traude Fritz ist es zu verdanken, dass es vor rund zehn Jahren doch noch zur dringend nötigen Instandsetzung der Rinnböck-Kapelle kam. Von 2011 bis 2012 wurde der Bau einer umfassenden Restaurierung unterzogen und zeigt sich nun wieder in einem Zustand, wie er Josef Rinnböcks ursprünglichen Intentionen entspricht.


1. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der vorliegende Beitrag teilweise älteres Material wiederverwendet: Sowohl über die Rinnböck-Kapelle als auch über die Rinnböck-Häuser habe ich vor acht bzw. sechs Jahren schon im alten Baudenkmäler-Blog etwas geschrieben. Leser*innen mit besonders gutem Gedächtnis wird hier daher manches bekannt vorkommen.
Wie man schon anhand der Jahreszeit erkennen kann, sind auch die Bilder nicht ganz aktuell, sondern (mit einer Ausnahme) aus meinem Archiv. Sie haben dafür den Vorteil, mehr oder weniger unmittelbar nach Abschluss der letzten Restaurierung entstanden zu sein und das Gebäude quasi im ‚Top-Zustand‘ zu zeigen.