Die sechzehnte Luftfahrt der Madame Reichard

Wien vor 200 Jahren. Der 9. August 1820 war ein heiterer Sommertag, bei schwachem Nordwind erreichte die Lufttemperatur 21 Grad nach Réaumur, das entspricht etwas mehr als 26 Grad Celsius. Im Prater hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, doch nicht bloß wegen des schönen Wetters, sondern weil es etwas zu bestaunen gab: den Start eines Heißluftballons. Und als wäre das nicht schon ungewöhnlich genug gewesen, war der Ballonfahrer – eine Ballonfahrerin: die „kühne Aeronautin“ Wilhelmine Reichard.

Wilhelmine Reichard, erste deutsche Luftschifferin
Litographie von Adolf Kunike, um 1820
[Bildquelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei]

Wilhelmine Reichard, geborene Schmidt (1788–1848) war eine Pionierin der Aeronautik und die erste Ballonfahrerin Deutschlands. 1806 hatte sie in ihrer Heimatstadt Braunschweig den Chemiker Gottfried Reichard (1786–1844) geheiratet. Beide teilten die Faszination für die damals noch recht neue Luftschifffahrt. Bekanntlich hatten erst 1783 die Brüder Montgolfier in Frankreich die erste erfolgreiche Fahrt mit einem bemannten Heißluftballon durchgeführt. In Deutschland hatte es daraufhin noch bis 1805 gedauert, ehe Friedrich Wilhelm Jungius von Berlin aus die erste Fahrt in einem Wasserstoffballon gelang.

Jungius war es auch, der das zwischenzeitlich nach Berlin übersiedelte Ehepaar Reichard bei dessen eigenen Flugversuchen unterstützte. Im Frühjahr 1810 gelang es Gottfried Reichard, einen flugfähigen Gasballon zu konstruieren, und er wurde zum ‚zweiten deutschen Ballonfahrer‘. Ein Jahr später, am 16. April 1811, unternahm schließlich auch Wilhelmine ihre erste Alleinfahrt in einem Ballon.

In den folgenden Jahren ‚tourte‘ das Ehepaar Reichard durch den ganzen deutschsprachigen Raum und führte – gegen Bezahlung – vor großem Publikum Ballonfahrten durch. Bis zu 50.000 Menschen sollen sich versammelt haben, um dem stets risikoreichen Unterfangen beizuwohnen. Für Gottfried sind insgesamt 16 Fahrten dokumentiert, für Wilhelmine mindestens 17. Dabei führten sie auch wissenschaftliche Untersuchungen wie Wetterbeobachtungen und Temperaturmessungen durch. Über die unternommenen Fahrten berichtete das Paar in Vorträgen und Publikationen, die ihnen ein zusätzliches Einkommen brachten. Mit dem daraus erwirtschafteten Gewinn erwarben die Reichards ein Grundstück im sächsischen Döhlen, wo Gottfried 1821 ein Chemiewerk errichtete. Nach seinem Tod 1844 führte Wilhelmine den Betrieb selbständig weiter, bis auch sie vier Jahre später in Döhlen verstarb.

Das Chemiewerk der Reichards in Döhlen, um 1850
[Bildquelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei]

Als Wilhelmine Reichard im Sommer 1820 nach Wien kam, war sie bereits eine weithin bekannte Persönlichkeit. Dementsprechend berichteten die Wiener Zeitungen schon im Vorfeld über ihre bevorstehende Ankunft und die geplanten Ballonfahrten. Die Wiener allgemeine Theaterzeitung widmete ihr sogar einen ausführlichen Bericht, der unter dem Titel: Die vierzehn Luftfahrten der Mad. Reichard alle ihre bisherigen Fahrten beschrieb. Am 16. Juli 1820 war es dann soweit, und das Wiener Publikum konnte die fünfzehnte Luftfahrt der Mad. Reichard bestaunen. – Die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode brachte davon, einige Tage später, folgenden Bericht:

Am Sonntag den 16. d. gegen sieben Uhr Abends erhob sich die kühne Aeronautinn vor einer sehr zahlreichen Versammlung und zwar im Prater vom Feuerwerksplatze aus. Die Füllung des Balls mit Gas wurde in der Mittagszeit in kaum drey Stunden zu Stande gebracht; der heiterste Sonntag des Jahres begünstigte das Unternehmen. Nachdem die Luftschifferinn das zweckmäßig verzierte Fahrzeug – einen Korb von sehr geringem Umfange – mit anspruchsloser Grazie bestiegen und die letzten Einrichtungen mit liebenswürdiger Unbefangenheit getroffen hatte, wurde der vollkommen zubereitete Aerostat vor den Galerien umhergeleitet, worauf er unter einigen Salven von Pöllern aus dem Hintergrunde und dem Zurufe der Versammlung in vertikaler Richtung aus dem Mittelpunkt des Schauplatzes sanft emporstieg, während die Scheidende durch ausgestreute Blumen auf die Zuschauer herabgrüßte. Allmählig seitwärts ablenkend nahm der Ball beym höheren Emporsteigen nach Osten seine Richtung, und lange konnte man noch die Zeichensprache der geschwungenen Fahne erkennen, auch mit guten Augen noch bemerken, wie die Einsame im weiten Luftraume nach und nach immer mehr Ballast von sich warf, um das Steigen des von der Tageshitze ungewöhnlich ausgedehnten Balles zu beschleunigen. In einer Höhe, wo dieser nur noch einer vom Glanze der Sonne hell erleuchteten Kugel glich, schien er zuweilen ganz stille zu stehen und selbst in der größten Entfernung von der Erde, die 5500 Wiener Schuh [ca. 1700 Meter] betragen mochte, soll sein Hinschweben nur durch geringe Schwingungen unterbrochen worden seyn. Gegen acht Uhr sank Mad. Reichard, wohlbehalten, unfern des Marktes Schwechat. Die Einwohner hatten die Luftschifferinn, während sie ihnen vorüberschwebte, durch Winke und, da sie sich eben auf der Schießstätte belustigten, auch durch Pöller zur Einkehr eingeladen; der Ballon senkte sich indeß erst bey Neu-Kettenhof äußerst sanft zunächst der Fahrstraße und wurde von den Anwohnenden mit schallender Freude empfangen. Montag Nachmittags kehrte Mad. Reichard in die Hauptstadt zurück.

Dreieinhalb Wochen später, eben am 9. August, unternahm Wilhelmine Reichard vom selben Ort aus eine weitere Fahrt, ihre insgesamt sechzehnte. Und diesmal hatten die Wiener*innen noch mehr zu schauen oder zumindest länger. Denn – wie es in einem Bericht der Theaterzeitung heißt – „sie hatte den Versuch versprochen, bey günstigem Wetter sich mittelst einer langen Schnur, am Ballon befestigt, eine Zeit lang zurückhalten zu lassen. (…) Der Versuch gelang, und man hatte das Vergnügen, die kühne Aerostate eine geraume Zeit mit all der Anmuth, die ihr zu Gebothe steht, über sich schweben zu sehen.“

Der Nachteil dabei war allerdings, dass der eigentliche Start des Ballons erst gegen halb acht Uhr abends erfolgte, als sich der Tag schon deutlich seinem Ende zuneigte: „Die hereinbrechende Dunkelheit“, so die Theaterzeitung weiter, „verstattete der M. R. also nicht länger in den höhern Regionen zu weilen, weßhalb sie eilte, die Klappe zu öffnen, und obgleich sie noch gegen 30 Pfund Ballast bey sich hatte, (welche schöne Reise hätte sie vornehmen können!) sich in der Nähe des Belveders, aber außer der Linie, herab zu lassen. – So nahe bey Wien war der Zulauf von Menschen ungeheuer. (…) Bald zog einer von den herbeygeströmten Leuten am Ballon links, bald ein anderer rechts – der eine stieß hier, der andere da.“ Am Ende brauchte es einen Trupp herbeigeeilter Soldaten, um die Menge zu zerstreuen und der Luftschifferin das Aussteigen aus ihrem Korb zu ermöglichen!

Damit waren allerdings noch nicht alle Hindernisse beseitigt. Denn wie in dem Bericht erwähnt, landete Reichard außer der Linie, d. h. außerhalb des Linienwalls, Wiens äußerer Befestigungsmauer, die im Bereich der heutigen Gürtelstraße verlief. Und weil es schon Abend war, waren die Tore des Walls bereits für die Nacht geschlossen. Vorschriftsgemäß weigerten sich die Wächter, die Ballonfahrerin zurück in die Stadt zu lassen. Erst als Erzherzog Karl, der ebenfalls zu Reichards Bewunderern zählte, intervenierte, wurde das Tor doch noch geöffnet und Reichard ins nahegelegene Belvedere geführt.

Diese kleinen Unannehmlichkeiten waren es aber wohl wert, denn die Einnahmen der Ballonfahrerin betrugen an diesem Abend 5000 Gulden, was einer heutigen Kaufkraft von rund 100.000 Euro entspricht. Und das, wie die Theaterzeitung abschließend festhält, „an einem Wochentage!“

Die alte Hietzinger Friedhofskapelle

Wer sich für die neugotische Architektur des 19. Jahrhunderts interessiert, wird in Wien nicht zuletzt auf den diversen Friedhöfen fündig. Hatte ich letztes Mal schon über das Rinnböck-Mausoleum in Simmering berichtet, so geht es diesmal ans andere Ende der Stadt nach Hietzing, quasi vom Arbeitervorort ins Nobelviertel. Aufgrund der Nähe zum kaiserlichen Schloss Schönbrunn wurde Hietzing im 19. Jahrhundert mehr und mehr zum beliebten Wohnort für die Wiener Upper Class. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden in dem einst ländlichen Ort zahlreiche Villen – und auf dem örtlichen Friedhof die dazugehörigen Mausoleen. Eines der auffälligsten darunter ist die Familiengruft der Odescalchi, bei der es sich jedoch eigentlich um die alte Friedhofskapelle handelt. Im älteren Teil des Friedhofs gelegen, wurde sie 1857 im Stil der Neugotik errichtet.

Neugotische Formen waren im 19. Jahrhundert bei Sakralbauten beliebt, weil das Mittelalter als Ideal einer christlichen Epoche galt. In Wien bzw. in Österreich setzte sich der Stil dennoch vergleichsweise langsam und später als zum Beispiel in München oder Berlin durch. Gerade Mitte der 1850er-Jahre ging es aber mit den Planungen für die Wiener Votivkirche und den Neuen Dom in Linz auch hierzulande so richtig mit der Neugotik los. Während dort mit Heinrich Ferstel respektive Vincenz Statz Architekten der jungen Generation zum Zug kamen, wurde der Entwurf der Hietzinger Friedhofskapelle jedoch einem Veteranen anvertraut: dem k. k. Architekt und Hofbau-Ingenieur Johann Rupp (1791–1872). Während Votivkirche und Linzer Dom bereits den Übergang zum historisch korrekten, strengen Historismus markieren, gestaltete Rupp die Kapelle noch ganz im Sinne des älteren romantischen Historismus, der mehr an einem phantastisch-märchenhaften Erscheinungsbild interessiert war als an einer originalgetreuen Wiedergabe vergangener Baustile. So wirkt die Friedhofskapelle für ihre Zeit bereits ein klein wenig altmodisch.

Der Bau weist eine denkbar einfache Grundstruktur auf: Er erhebt sich auf rechteckigem Grundriss und wird von einem Giebeldach bedeckt. Die Ecken allerdings sind durch wuchtige, mit gotischen Fialen bekrönte Pfeiler betont, die Giebel im Stil der Tudorgotik abgetreppt. An der Stirnseite erhebt sich über dem Giebel ein zierliches Türmchen, das oben von einer Maßwerkbrüstung und einer polygonalen, krabbenbesetzten Spitze abgeschlossen wird.

Die massiven Quaderwände des Baus werden an den Längsseiten nur durch je ein zweibahniges Maßwerkfenster aufgelockert, an der Rückseite hingegen durch eine Fensterrose. An der Frontseite schließlich bildet ein gotisches Wimpergportal den einzigen Eingang zum Kapellenraum.

Im Wimperg prangen die Familienwappen der Esterházy und der Batthyány, denn die Friedhofskapelle entstand im Auftrag der Gräfin Jeanette Esterházy, eigentlich Johanna von Esterházy de Galántha, geb. Gräfin Batthyány (1798–1880). Im Wiener Kulturleben ihrer Zeit war sie eine prominente Figur, tat sich vor allem als Förderin von Musikern und Komponisten hervor, brillierte aber auch selbst als Virtuosin auf der Harfe. Ihren Unterricht auf dem Instrument erhielt sie durch keinen Geringeren als Elias Parish Alvars (1808–1849), den sie zugleich als Mäzenin unterstützte. Nach dessen Tod förderte sie vor allem den Komponisten und Harfenisten Johann Dubez (1828–1891). Auch zu Franz Liszt und Fréderic Chopin unterhielt sie zeitweise enge Kontakte, und Letzterer widmete ihr 1842 sein Impromptu Nr. 3 Ges-Dur op. 51.

Nachdem Jeanette Esterházy 1852 eine Villa in Hietzing bezogen hatte, wurde sie auch zu einer wichtigen Patronin der dortigen Pfarrkirche, die als Wallfahrtsziel am Rande von Wien eine gewisse lokale Bedeutung hatte. Unter anderem stiftete die Gräfin ein goldbesticktes Antependium aus rotem Samt für den Altar und einen Baldachin für das Fronleichnamsfest aus demselben Material.

Ihre nachhaltigste und monumentalste Stiftung war jedoch die Kapelle im Hietzinger Friedhof. Diese war freilich nicht ganz uneigennützig: Obwohl das Bauwerk als öffentliche Friedhofskapelle für Einsegnungen benutzt wurde, war es gleichzeitig als Grablege für die Stifterin und ihren Mann, Alois Esterházy de Galántha (1780–1868), konzipiert. Nachdem 1912–1913 eine neue Kapelle für den mittlerweile mehrfach erweiterten Friedhof errichtet worden war, übernahm der Bau von 1857 endgültig die Rolle einer Familiengruft. Da Jeanette und Alois Esterházy keine direkten Nachkommen hatten, ging die Kapelle an die mit den Esterházy verschwägerte Familie Odescalchi über. Seither wird das Gebäude daher meist als Odescalchi-Mausoleum bezeichnet – was allerdings seinen Ursprung unkenntlich macht und die Erinnerung an seine Stifterin verschleiert.