Der Rundtempel am Wilhelminenberg in Wien

Wer vom Wiener Stadtteil Ottakring aus die bewaldeten Hänge des Wienerwaldes erwandert, wird kurz vor der Otto Koenig-Warte, gleich neben der Rodelbahn Galitzinberg-Steinbruchwiese einen runden, weißen Tempel zwischen den Bäumen hervorleuchten sehen, besonders jetzt im Winter, wo er nicht hinter dichtem Laub verborgen liegt. Mit seinem Kuppeldach und seinen ionischen Säulen gibt sich das Bauwerk redlich Mühe, die Architektur der römischen Antike zu evozieren. Tatsächlich aber ist es natürlich keineswegs antik, vielmehr handelt es sich um ein Stück klassizistischer Gartenarchitektur, um den Rest einer Parkanlage des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Genauer gesagt: um den Rest der vielleicht bedeutendsten Wiener Parkanlage jener Zeit, des Landgutes des Fürsten Galitzin.

Dort wo heute das Schloss Wilhelminenberg steht, ließ nämlich 1785 der russische Botschafter, Dmitri Michailowitsch Galitzin (1721–1793), ein kleines Schloss als seine Sommerresidenz errichten. Damals wurde der steil nach Osten abfallende Standort noch mit dem sprechenden Namen ‚Predigtstuhl‘ bezeichnet, doch schon bald wurde er nach dem neuen Schlossherrn ‚Galitzinberg‘ genannt. (Im späten 19. Jahrhundert schließlich setzte sich die Benennung ‚Wilhelminenberg‘ durch, nach der damaligen Besitzerin des Landguts, Wilhelmine von Montléart.) Eine kolorierte Radierung von ca. 1810 zeigt das Galitzin’sche Schloss in seinem ursprünglichen Zustand:

Ansicht des Lustschlosses auf dem fürstlich Galitzin’schen Landgute, genannt Predigtstuhl
Stich von Johann Ziegler nach einer Vorlage von Lorenz Janscha, um 1810
[Quelle: Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv Austria]

Es handelte sich um einen eingeschoßigen Bau, der noch deutlich kleiner war als das heutige Schloss Wilhelminenberg, ein richtiges Lustschlösschen eben. Nur der Mittelteil mit dem zentralen Saal war durch sein erhöhtes Dach und durch eine klassizistische Tempelfront hervorgehoben. Zu beiden Seiten des Schlosses zeigt die Radierung freistehende Nebengebäude, im Vordergrund aber einen Teich mit einem hölzernen Schwanhaus, der vom Schloss zur Parkanlage überleitete.

Der Park war es auch, der den Landsitz des Fürsten Galitzin am Predigtstuhl so besonders machte. Denn es handelte sich um die erste große Gartenanlage im Gebiet des heutigen Wien, die nicht mehr nach barockem Muster mit geometrisch angeordneten Buchsbaumhecken konzipiert wurde, sondern als Landschaftspark nach englischem Vorbild. Zwar war sie selbstverständlich ebenfalls penibel geplant, doch an die Stelle von Regelmäßigkeit und Symmetrie traten Wälder und Wiesen, die in loser, pittoresk anmutender Anordnung über die Hänge verstreut wurden. An mehreren exponierten Punkten in dieser künstlichen Landschaft wurden kleine Gartenarchitekturen errichtet, die gleichermaßen als Blickfang wie als Aufenthaltsorte und Aussichtspunkte dienten.

Das Landgut des Fürsten von Galitzin auf dem Predigtstuhl
Stich von Kilian Ponheimer nach einer Vorlage von Adam Braun, 1790
[Quelle: Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv Austria]

Das Prunkstück darunter bildeten die neu errichteten ‚römischen Ruinen‘, damals ein Must-Have in jedem fürstlichen Garten, für das es mit der Römischen Ruine in Schönbrunn auch in Wien ein prominentes Vorbild gab. Eine 1790, also noch zu Lebzeiten Galitzins, entstandene Ansicht des Landguts am Predigtstuhl zeigt diese ‚Ruinen‘ denn auch prominent im Vordergrund [s. Bild oben], und Franz Anton de Paula Gaheis’ 1794 gedruckte Spazierfahrten in die Gegenden um Wien geben eine ausführliche Beschreibung davon:

„Sie sind mit solcher Kunst und Täuschung verfertiget, daß man Mühe hat, sie für Werke unserer Zeiten anzusehen. Die im echt römischen Style angebrachte Inschrift hilft diese Täuschung noch vermehren. Man glaubt wirklich ehrwürdige Rudera des Alterthums vor sich zu sehen, wenn man die zerbrochenen Säulen, die eingestürzten Thorbögen, die herumliegenden, mit Moos bewachsenen Bruchstücke, und die auf dem Gemäuer wachsenden Pflanzen, denen man die pflegende Hand des Gärtners kaum anmerkt, erblickt. Diese schauerliche Empfindung wird durch die dabey gepflanzten Tannen und Fichtenbäume nur noch mehr erhöht.“1

Auf der Ansicht von 1790 ist auch der eingangs gezeigte Rundtempel mit den ionischen Säulen zu sehen: Man erkennt ihn im Bildmittelgrund, auf einem Hang ein Stück links vom Schloss. Eine Allee von jungen Bäumen oder Sträuchern führt zu ihm hinauf. Nach hinten ist er von Wald umschlossen, vorne, zum Hang hin, steht er jedoch frei und bot wohl eine hervorragende Aussicht in die Umgebung.

Vermutlich ist es auch dieser Tempel, über den de Paula Gaheis’ in seinen Spazierfahrten weiter schreibt: „Mit einer Wendung gegen Westen nimmt man einen lachenden Tempel gewahr, der im neuesten Geschmacke und sehr solid aufgeführet ist. Von demselben schlängeln sich verschiedene Wege rechts und links durch den Waldgarten hinan und hinab; und führen auf allen Seiten zu den überraschendsten Parthien und natürlich schönen Anlagen. Jedermann wird bey Durchwandlung derselben von selbst die Bemerkung machen, daß unter allen künstlichen Lustgegenden um Wien keine so viel Ungekünsteltes, Naturähnliches, Ungesuchtes habe, wie diese.“2

Es könnte allerdings auch sein, dass sich die Passage auf ein anderes Bauwerk im Galitzin’schen Park bezieht, nämlich auf den gotischen Tempel, von dem ebenfalls eine zeitgenössische Ansicht überliefert ist:

Der Gothische Tempel auf dem fürstlich Galitzin’schen Landgute, genannt Predigtstuhl
Stich von Johann Ziegler nach einer Vorlage von Lorenz Janscha, um 1810
[Quelle: Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv Austria]

Es handelte sich dabei um einen der ersten neugotischen Bauten überhaupt in Wien. Mit der mittelalterlichen Architektur hatte er freilich nicht mehr gemeinsam als die Verwendung spitzbogiger Arkaden. Die Grundform als offener, von einer Kuppel bekrönter Rundtempel steht hingegen in derselben klassizistischen Tradition wie der ‚ionische‘ Tempel, die ‚römischen Ruinen‘ und das Schlossgebäude selbst.

Das Schloss des Fürsten Galitzin wurde im 19. Jahrhundert umgebaut und erweitert, in den Jahren 1903 bis 1908 jedoch endgültig abgerissen und durch einen deutlich größeren Neubau – das Schloss Wilhelminenberg – ersetzt. Der Park ist längst zu einer ‚richtigen‘ Waldlandschaft verwachsen, der gotische Tempel zerstört, und von den ‚römischen Ruinen‘ sind nur noch rudimentäre Reste, gleichsam Ruinen von Ruinen, vorhanden. So bildet heute der Rundtempel bei der Rodelbahn das letzte Erinnerungsmal an ein verlorenes Ensemble, dem in der Geschichte der Wiener Bau-, aber mehr noch der Gartenkunst eine so bedeutende Stellung zukam.


1. Franz Anton de Paula Gaheis, Spazierfahrten in die Gegenden um Wien. Den Freunden des ländlichen Vergnügens gewidmet, Wien 1794, S. 53.

2. Franz Anton de Paula Gaheis, Spazierfahrten in die Gegenden um Wien. Den Freunden des ländlichen Vergnügens gewidmet, Wien 1794, S. 53-54.